Nickel Boys (2024)
- Florian Wolf

- 29. März
- 2 Min. Lesezeit
★★★

Nickel Boys (2024) von RaMell Ross ist zweifellos der visuell markanteste unter den zehn Oscarnominierten Filmen – und jener, der sich am weitesten von der etablierten Ästhetik Hollywoods entfernt. Bereits in den ersten Momenten wird das Publikum von der Bildgewalt der penibel komponierten Einstellungen überwältigt. Erst allmählich wird klar: Wir sehen die Welt konsequent aus der Egoperspektive der Hauptfigur. So wird aus der Betrachtung eines Schaufensters oder eines simplen Bügeleisens eine Reflexion über Selbstwahrnehmung und Identität.
Die Kamera zwingt uns, die Perspektive von Elwood (Ethan Herisse) einzunehmen, eines
talentierten Schülers, der an einem einzigen Tag durch eine verhängnisvolle Verkettung von Zufällen in die Fänge eines unmenschlichen Systems gerät. Als er beim Trampen in das falsche Auto steigt, wird er nach einer Polizeikontrolle auf die berüchtigte Nickel Academy geschickt – eine Umerziehungsanstalt für Jugendliche, die nichts anderes ist als ein Ort systematischer Unterdrückung. Der allgegenwärtige Rassismus, dem Elwood begegnet, durchzieht jede Szene, aber ebenso spürbar ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, genährt durch Familie, Freundschaft und das Civil Rights Movement – vor allem aber durch die Ideale von Martin Luther King.
Doch Nickel ist ein Ort, an dem diese Hoffnung keine Bedeutung mehr hat. Hier herrscht ein brutales, rassistisch geprägtes Machtgefüge, in dem Gewalt und Willkür die Regeln bestimmen. Elwoods einziger Halt ist Turner (Brandon Wilson), ein gleichaltriger Insasse, der ihn mit den ungeschriebenen Gesetzen der Anstalt vertraut macht. Die Struktur von Nickel ist ebenso von der Grausamkeit der weißen Aufseher geprägt, die ohne Zögern zu drakonischen Strafen greifen, wie von der gnadenlosen Routine harter, körperlicher Arbeit, die den Alltag der Jugendlichen dominiert.
RaMell Ross fängt diese Gefangenschaft in einem engen 4:3-Bildformat ein. Die beengten, quadratischen Bilder stehen dabei im Kontrast zur subjektiven Kamera, die Elwoods Streben nach Freiheit spürbar macht. Doch obwohl der Film zu Beginn eine außergewöhnliche visuelle Sprache entwickelt, gelingt es ihm nicht, diese konsequent weiterzuführen. Mit fortschreitender Laufzeit verliert sich Nickel Boys (2024) zunehmend in einzelnen Momenten und verliert dabei Tempo und narrative Stringenz. Die Charaktere verharren in ihren Ausgangssituationen, während die Handlung zu sehr auf die Enthüllung im Finale hinarbeitet – eine Enthüllung, die sich für aufmerksame Zuschauer bereits früh erahnen lässt.
RaMell Ross gelingt ein Film, der sein Publikum von der ersten Sekunde an visuell überwältigt. Besonders in den Anfangsminuten reiht sich eine atemberaubende Einstellung an die nächste – Bilder, die man nicht aus den Augen lassen will, aus Angst, eine weitere brillante Komposition zu verpassen. Doch Nickel Boys (2024) kann diese visuelle Wucht nicht durchgehend aufrechterhalten. Weder findet der Film im weiteren Verlauf neue ästhetische Ausdrucksformen, noch gelingt es ihm, das Erzähltempo konsequent aufrechtzuerhalten. Dennoch bleibt er einbeeindruckender, herausfordernder Film, der sich bewusst gegen konventionelle Sehgewohnheiten stellt – und genau darin seine größte Stärke findet.



