The Life of Chuck (2024): Die Welt vergeht leise – und mit ihr Chuck
- Florian Wolf

- 16. Juli
- 4 Min. Lesezeit
The Life of Chuck (2024) ist kein gewöhnlicher Film: Mike Flanagan verfilmt Stephen Kings Kurzgeschichte als poetisches Memento mori über Bewusstsein, Erinnerung und das Ende der Welt – leise, fragmentarisch, berührend. Ein Film, der mehr fühlt als erklärt.

The Life of Chuck (2024) Kritik von Florian Wolf
Was wäre, wenn es auf einmal keinen Morgen mehr gäbe, keinen neuen Versuch, vielleicht nicht einmal eine weitere Minute, wenn das Universum implodiert und sein Ende gekommen ist? Mike Flanagans The Life of Chuck (2024) wagt genau diese poetische Volte und formt aus einer Kurzgeschichte von Stephen King ein filmisches Memento mori, das sich von den Normen des filmischen Realismus befreit und zu einer Logik der Bewusstseinszustände wird. Das Endergebnis ist eine in drei Akten unterteilte filmische Erfahrung, die vom kosmischen Kollaps bis zu den eigenen kindlichen Erinnerungen reicht.
Der Film ist formal wie inhaltlich radikal: Anstelle einer linearen Lebensgeschichte präsentiert The Life of Chuck eine vom Unterbewusstsein geschaffene Welt aus den Eindrücken und Erinnerungen eines ganzen Lebens. Der erste Akt des Films – und somit das erzählerische Ende – imaginiert die Welt als Konstrukt des Bewusstseins. Eine für die Zuschauer:innen im ersten Moment nicht ganz so leicht zu verortende Welt mit immer wieder kleinen Brüchen in der erzählerischen Realität. Eine Endzeitstimmung hat sich ausgebreitet, die Bevölkerung ist zugleich perspektiv und hoffnungslos. Die äußere Realität zerfällt dabei in der inneren Ordnung: Naturkatastrophen, ein stillgelegtes Internet und verschwindende Sterne sind Symptome eines sich auflösenden Geistes.
Die Apokalypse inszeniert sich hier nicht als spektakuläres Ereignis, sondern als lautlose Implosion. Inmitten eines schleichenden Weltuntergangs erscheinen Werbetafeln, die sich bei Chuck für „39 großartige Jahre“ bedanken – ein irritierendes Detail, zumal niemand der Figuren ihn zu kennen scheint. Während die Welt langsam zerfällt, werden ausgerechnet diese seltsam positiven Anzeigen zur einzigen konstanten Größe. Die Figuren begegnen diesem Widerspruch mit ungläubigem Staunen – und ebenso verstört wie fasziniert blickt auch das Publikum im ersten Akt auf eine Realität, die sich auflöst, während sie sich zugleich in freundlich leuchtender Werbung spiegelt.
Die Struktur des Films folgt einem konsequenten Konzept: Die drei Kapitel – „Thanks, Chuck“, „Buskers Forever“ und „I Contain Multitudes“ – entfalten sich als umgekehrte Lebensspur der Hauptfigur Chuck Krantz (Tom Hiddleston und Benjamin Pajak). Jeder Abschnitt trägt dabei ein anderes Genre in sich: mystisches Endzeitdrama, rhythmische Lebensbejahung und Coming-of-Age-Miniatur.
Was sie verbindet, sind wiederkehrende Motive und Sprachmuster: Figuren tauchen immer wieder in verschiedenen Variationen und Zusammenhängen auf. Metaphern wie jene vom „kosmischen Kalender“, in dem die gesamte Menschheitsgeschichte in den letzten Sekunden eines Kalenderjahres Platz findet, sind ein weiteres verbindendes Element. Diese Perspektive auf die eigene Vergänglichkeit wird zur Folie des Films. Das Universum ist demnach keine objektive Realität, sondern eine mentale Architektur. Oder, um es mit den Worten von Chuck selbst zu sagen: „I am wonderful, I deserve to be wonderful, and I contain multitudes.“
Im zweiten Akt, „Buskers Forever“, erreicht der Film einen Moment ekstatischer Lebendigkeit: Chuck beginnt spontan auf offener Straße zu tanzen, begleitet von einer Straßenmusikerin. Der Moment ist absurd, berührend und voller Energie – ein reiner Ausdruck gegen die Linearität des Lebens. Nicht mehr Erinnern, nicht mehr Fürchten, nur Sein. Die Kamera vibriert mit, der Rhythmus überträgt sich direkt auf die Körper der Figuren – und auf die der Zuschauer:innen. Es ist ein Höhepunkt der poetischen Selbstermächtigung, ein Tanz gegen das Vergessen, ein Moment einer glücklichen Erinnerung.
Tom Hiddleston spielt Chuck mit zurückhaltender Sensibilität. Er steht selten wirklich im Zentrum der Handlung – gerade im ersten Akt bleibt er als Figur eine Abwesenheit. Sein Leben entfaltet sich nicht über Handlungen, sondern über Spuren: Narben, Erinnerungsfetzen und Visionen. Benjamin Pajak als junger Chuck bringt hingegen eine vitale Leichtigkeit in den Film, die ihm eine schwebende Melancholie verleiht. Besonders hervorzuheben ist Chiwetel Ejiofor als Marty. Mit nur wenigen Szenen verleiht er dem Unsagbaren eine Stimme und Präsenz.
Visuell arbeitet Flanagan mit klaren Metaphern. So wird der wolkenlose Nachthimmel ohne Sterne, der sich über den dritten Akt legt, zur Projektionsfläche für das Auslöschung. Die immer wieder eingeblendeten Uhren und Kalender verweisen auf Zeitlichkeit und Endlichkeit.
Der von Taylor Stewart und Andrew Grush komponierte Score ist dabei keine bloße Untermalung, sondern das atmosphärische Zentrum: ein melancholischer Klangteppich, der das Zwischenweltliche des Films zum Klingen bringt.
The Life of Chuck (2024) ist kein gewöhnlicher Film. Er ist vielmehr eine spekulative Innenschau, ein Film, der weniger vom Leben eines Menschen als vom Leben selbst erzählt. Er stellt die Frage: Was bleibt, wenn alles vergeht? Was sind wir, wenn nicht die Summe unserer Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen?
Flanagan geht in dem Film nicht didaktisch, sondern poetisch vor und lässt Erinnerungen erleben und konstruieren. Nicht alles in diesem Film passt zusammen, nicht alles ergibt im ersten Moment Sinn. Die Realität erschafft sich selbst und ist immer in Bewegung. Besonders im ersten Drittel ist das vielleicht die größte Stärke des Films: Er lässt Leerstellen und erlaubt dem Fantasyhaften, ja sogar dem Mystischen, einen Platz. Dass wir als Zuschauer die ersten 40 Minuten des Films nicht verstehen, sondern erfühlen, zahlt sich im weiteren Verlauf nach und nach aus, denn wir bekommen die wichtigen Konzepte mit.
The Life of Chuck (2024) ist ein meditatives, zutiefst menschliches Filmkunstwerk über das Bewusstsein und die inneren, für uns nicht verständlichen Abläufe in unserem Gehirn. Mike Flanagan entwirft eine eigene Bildsprache für einen Moment im Leben, in dem oft die Worte fehlen. Auch wenn nicht alles gelingt – das Voice-Over passt sich beispielsweise nicht ganz dem Stil des Films an – ist The Life of Chuck (2024) ein ehrlicher, wundervoller, melancholischer und kraftvoller Film, der uns auf eine Reise mitnimmt und nicht nur zeigt, sondern uns fühlen lässt.



